Das Rett-Syndrom

Symptome, Behandlung und Lebenserwartung beim Rett-Syndrom

Das erste Hochziehen am Stuhl, die ersten Gehversuche oder auch die ersten Worte – für viele Eltern bedeutet es das größte Glück, ihren Kindern beim Heranwachsen zuzusehen. Wenn diese erlernten Fähigkeiten aber plötzlich zurückgehen und das Kind beispielsweise das Laufen wieder verlernt, kann es sich, insbesondere bei Mädchen, um das sogenannte Rett-Syndrom handeln. Bei dieser seltenen Erkrankung liegt eine Genmutation vor, die neurologische Entwicklungsprozesse stört. Rund 50 Kinder erkranken jährlich.

Aber welche Merkmale zeigen sich beim Rett-Syndrom und wie geht der Verlauf der Erkrankung vonstatten? In diesem Ratgeber erklären wir, was das Rett-Syndrom genau ist, welche Lebenserwartung die Betroffenen aufweisen und die möglichen Symptome bei Jungen und Mädchen.

Definition: Was ist das Rett-Syndrom?

Bei dem Rett-Syndrom (RTT) handelt es sich laut Definition um eine neurologische Entwicklungsstörung, die zum ersten Mal vom Jugendpsychiater Andreas Rett 1966 beschrieben wurde. Die Betroffenen weisen eine Mutation des Gens Methyl-CpG bindenden Proteins 2 (MECP2) auf, das sich auf dem X-Chromosom befindet. Weil männliche Föten mit dieser Mutation auf dem X-Chromosom in den meisten Fällen vor der Geburt sterben, sind häufiger lebende Mädchen als Jungen von dieser Störung der neurologischen Entwicklung betroffen. Das Rett-Syndrom stellt die zweithäufigste Behinderung durch eine Mutation bei Mädchen dar.

Das Protein nimmt eine zentrale Rolle bei der Reifung der Nervenzellen und deren Vernetzung ein. Während das erste Lebensjahr der Betroffenen häufig unauffällig verläuft, verlieren die vom Rett-Syndrom betroffenen Kinder als erste Anzeichen im zweiten Lebensjahr ihre bereits erworbenen Fähigkeiten (Regression). Dies geschieht entweder schlagartig oder über einen längeren Zeitraum von Monaten bis hin zu Jahren. Aus diesem Grund erscheint die Erkrankung für viele unvorhergesehen und geht mit starken Veränderungen im Lebensalltag der Betroffenen sowie deren Angehörigen einher.

Welche Symptome und Merkmale können auf das Rett-Syndrom hindeuten?

Bei dieser neurologischen Entwicklungsstörung verlangsamt sich das Wachstum des Kopfes und Gehirns, wodurch sich die sozialen, sprachlichen und motorischen Fertigkeiten verschlechtern und mit dem Fortschreiten der genetischen Erkrankung ganz verloren gehen können. Die ersten Anzeichen des Rett-Syndroms treten bei den meisten Patientinnen und Patienten zwischen dem sechsten und dem 18. Lebensmonat auf.

Geistige Beeinträchtigungen

Gestörte Informationsverarbeitung, bei der zwar Gesagtes verstanden wird, es den Patientinnen und Patienten jedoch schwerfällt, sich selbst auszudrücken, Depressionen, Angststörungen, Schrei- und Lachphasen.

Körperliche Beeinträchtigungen

Bewegungsstörungen und repetitive Handbewegungen, die einem Händewaschen oder Wringen ähneln, gleichzeitig Verlust der zielgerichteten Handbewegung (Regression) wie das Greifen, Gangstörungen und eine eingeschränkte Mobilität, Skoliose oder Kyphose, Atem- und Schluckbeschwerden, Krampfanfälle, Herzprobleme, Wachstumsstörungen, Epilepsie, frühe Pubertät, oft ohne Wachstumsschub, daher häufig kleinwüchsig, Schlafstörungen, Zähneknirschen, Verdauungsprobleme, Osteoporose.

Nicht alle Betroffenen zeigen die beschriebenen Symptome und bei manchen kann sich in der späten Kindheit oder der frühen Pubertät eine Verbesserung der sozialen Fertigkeiten einstellen. Die sprachlichen und körperlichen Beeinträchtigungen bleiben bei den Patientinnen und Patienten jedoch bestehen. Auch können die Symptome in ihrer Schwere von Person zu Person variieren. Männliche Personen weisen seltener die für das Rett-Syndrom typischen Handbewegungen auf. Stattdessen leiden sie häufiger unter Infektionen der Lunge und des Innenohrs. Auch treten bei ihnen öfter epileptische Anfälle auf.

Krankheitsstadien: Verlauf des Rett-Syndroms bei Mädchen und Jungen

Die Entwicklung der Symptome verläuft beim Rett-Syndrom typischerweise in mehreren, deutlich voneinander abgrenzbaren Phasen. Jede Phase bringt spezifische Herausforderungen für die betroffenen Kinder, ihre Familien und betreuenden Fachpersonen mit sich. Hier finden Sie eine Übersicht zu den einzelnen Krankheitsstadien beim Rett-Syndrom:

Ein Junge mit Rett-Syndrom gibt seinem behandelnden Arzt ein High-Five.

1. Stadium: sechster bis 18. Lebensmonat

Das erste Stadium kennzeichnet sich durch eine Verlangsamung oder einen Stillstand der motorischen Entwicklung der Patientin bzw. des Patienten. Angehörige und Betreuende beobachten zusätzlich ein scheinbar nachlassendes Interesse für Personen, Spielsachen und die Umgebung.

2. Stadium: erstes bis drittes Lebensjahr

Im zweiten Stadium treten die ersten Rückentwicklungen innerhalb von Wochen oder Monaten auf. Hierzu zählen beispielsweise motorische Fähigkeiten wie das Greifen nach Gegenständen, erste Gehversuche oder die bereits erworbene Lautsprache. Darüber hinaus ziehen sich die betroffenen Kinder häufig sozial und emotional zurück. Sollte in dieser Phase eine Diagnose gestellt werden, so handelt es sich häufig um die Fehldiagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) statt des Rett-Syndroms.

3. Stadium: zweites bis zehntes Lebensjahr

Im anschließenden Stadium interessieren sich die Patientinnen und Patienten wieder mehr für ihre Umgebung und Sozialkontakte. Außerdem verbessern sich die Kommunikationsfähigkeiten, die jedoch hinter denen Gleichaltriger zurückbleiben. Gleichzeitig verstärken sich die Bewegungsstörungen, Wirbelsäulenfehlstellungen sowie ein unsicheres Gangbild. Auch die ersten Krampfanfälle können in diesem Stadium auftreten.

4. Stadium: Nach dem zehnten Lebensjahr

Das Kontaktverhalten der Kinder nimmt in diesem Stadium weiter zu und die kognitiven Fähigkeiten verbessern sich. Während sich die geistigen Beeinträchtigungen verringern oder gänzlich verschwinden, nehmen die körperlichen weiterhin zu und können bis zur vollständigen Immobilität reichen. So können sich die Betroffenen lebenslang gefangen in ihrem Körper fühlen. Die Krampfanfälle verschwinden bei einigen Patientinnen und Patienten von selbst. Sollte dies nicht der Fall sein, so können diese mit Medikamenten behandelt werden.

Bei den hier beschriebenen Symptomen und dem Krankheitsverlauf handelt es sich um die Zapella-Variante, die sich von den Rolando- und Hanefeld-Varianten unterscheidet. Die Betroffenen der Rolando-Variante erlernen das Gehen nie: Sie sind daher von ihrer Geburt an in ihrer Mobilität eingeschränkt und benötigen hier ständig Unterstützung. Die Hanefeld-Variante wurde bis 2020 als besondere Form des Rett-Syndroms gezählt. Da bei dieser Variante jedoch das Gen CDKL5 statt des MECP2s verändert ist, wird die Form seit Oktober 2020 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) separat als CDKL5-Mangelstörung (CDD) bezeichnet. Sie kennzeichnet sich durch epileptische Anfälle, die bereits im ersten Lebensjahr auftreten.

Diagnose und Therapie des Rett-Syndroms

Die Diagnose des Rett-Syndroms bei Kindern erfolgt anhand einer fortlaufenden Untersuchung und bestimmten Kriterien der körperlichen und neurologischen Symptome sowie einer genetischen Untersuchung, die das mutierte Gen und damit die Diagnose bestätigen kann. Da der frühkindliche Autismus häufig mit dem Rett-Syndrom verwechselt wird, gilt es, beide Erkrankungen früh voneinander abzugrenzen und einen entsprechenden Behandlungsplan für die Patientinnen und Patienten aufzustellen. 

Um die Lebenserwartung bei Betroffenen des Rett-Syndroms zu erhöhen, stehen zahlreiche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Hierzu zählen beispielsweise

  • die Behandlung der körperlichen und neurologischen Symptome, unter anderem durch Physio-, Ergo- sowie Sprachtherapien,
  • Unterstützungsangebote für Angehörige im Bereich Erziehung, etwa in Form von Sonderpädagogikangeboten,
  • Unterstützung bei der Ernährung, um einen starken Gewichtsverlust zu vermeiden,
  • Medikamente zur Behandlung der Krampfanfälle beim Rett-Syndrom, stereotypen Handbewegungen oder Verbesserung der Atmung und
  • zukünftig eventuell das seit 2023 in den USA zugelassene Medikament Trofinetid.

Regelmäßige ärztliche Untersuchungen spielen eine zentrale Rolle, um den allgemeinen Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten kontinuierlich zu überwachen. Dabei sollen insbesondere das Fortschreiten der Skoliose sowie mögliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen frühzeitig erkannt und die Symptome des Rett-Syndroms fortlaufend behandelt werden.

Rett-Syndrom – exzellente Therapiemethoden in den Kliniken der St. Augustinus Gruppe

In den Kliniken der St. Augustinus Gruppe erhalten die Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige fachmedizinische Unterstützung bei der Behandlung des Rett-Syndroms. Unsere Expertinnen und Experten des Fachbereichs Neurologie können mit einer modernen Diagnostik und einem individuellen Therapieplan die Lebensqualität der Betroffenen verbessern und den Verlauf dieser genetischen Erkrankung verlangsamen. Da das Rett-Syndrom sowohl körperliche als auch neurologische Symptome hervorruft, arbeitet unser interdisziplinäres Team eng zusammen, um unseren Patientinnen und Patienten die bestmögliche Therapie gegen ihre individuellen Beschwerden beim Rett-Syndrom zu bieten. An dieser Stelle kommen neben Medikamenten auch unsere Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, Musiktherapie sowie Ernährungsberatung zum Einsatz. Diese können Herausforderungen mit der Motorik und der Kommunikation verbessern sowie den Erhalt und Neuerwerb verschiedener Fertigkeiten fördern. Dadurch kann wiederum der Alltag der Betroffenen und ihrer Angehörigen erleichtert und ihre Zufriedenheit gesteigert werden.

Das Team der Neurologie unterstützt Betroffene bei der Behandlung des Rett-Syndroms.

Kliniken der St. Augustinus Gruppe mit Schwerpunkt Neurologie

Das sagen unsere Experten zum Thema Rett-Syndrom

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